Manchmal erzähle ich von meiner Grossmutter

Textauszug. Der ganze Text ist in_>«Mein Aarau» 2013 erschienen.__> zurück zu literatour

Es gibt ein paar Dinge, die sind einfach klar. Ich bin einmal auf die Welt gekommen, habe eine Mutter und einen Vater, und irgendwann werde ich wieder gehen, also sterben, was immer das genau ist. Dazwischen, nun, dazwischen scheint auch vieles klar. Ist es aber nicht. Auf jeden Fall nicht immer. Sicher ist, wenn man es sich überlegt, ziemlich wenig.

I
Aufgewachsen bin ich in Aarau. Als ich alt genug war, und wenn es mir danach war, setzte ich mich auf meinen Halbrenner und raste an den Hallwilersee. Ich nahm mir jedes Mal vor, nicht zu pressieren und vergass es jedesmal wieder, meist schon auf der Bachstrasse in Suhr, spätestens aber zwischen Schafisheim und Seon. Wenn ich ankam, war ich immer total verschwitzt und ausser Atem.
Einmal hatte ich den Schlüssel vergessen. Das war hart. Ansonsten öffnete ich das Vorhängeschloss der Aussentüre und dann die Innentüre mit der altmodischen Sicherheitsverriegelung: Rechts lag jetzt die Schiffsgarage mit dem hochgezogenen Holzboot. Automatisch strich ich mir die Spinnweben aus dem Gesicht. Spinnweben hatte es immer. Die dritte Türe war nur mit einem einfachen Schieberiegel verschlossen. Und dann stand ich auf der Terrasse unseres Bootshauses im Seengener Zopf, vor mir der Länge nach der Hallwilersee, dahinter, insbesondere bei Föhnlage, die Luzerner Voralpen.
Schön fand ich das damals schon. Das Wäh-Wäh-Wäh der Enten, das Girren des Holzes, das vom Wasser immer etwas bewegt wird, bei starkem Wind die Eisendrähte der Segelschiffe im Hafen, die gegen die Masten schlagen und an Hochsommertagen das laute Treiben der Seebäder links und rechts; Lachen, Planschen, Platschen, Schwatzen. Am schönsten fand ich immer schon das wabbelige Lichtspiel, das die wassergespiegelte Sonne ins Innere der Holzhütte wirft.
Selbstverständlich wusste ich damals schon, dass dieser Ort, dass unser Bootshaus nicht nur sehr schön, sondern auch sehr begehrt und wertvoll war. Meine Klassenkameraden hatten, wenn überhaupt, Ferienhäuser im Tessin oder Graubünden, auf dem Zugerberg, auf Sardinien oder in Spanien. Aber keines stand auf Pfählen im brusttiefen Wasser. Wir gehörten zu den willkürlich Bevorteilten. Und mir war auch damals schon klar, dass meine Eltern so ein Bootshaus nie hätten kaufen können. Die Liebhaberpreise waren viel zu hoch, wenn denn überhaupt je einmal eines verkauft wurde.
Ich wundere mich deshalb bis heute, dass ich zu so einem Bootshaus einen Schlüssel habe und dort ein- und ausgehen darf. Das heisst: Ich wundere mich, wenn ich darüber nachdenke. Gewöhnlich finde ich es ganz normal. So bin ich aufgewachsen. Meine Grossmutter hatte bei Herrn und Frau Doktor gearbeitet, denen das Bootshaus gehörte, und als diese zu alt waren, um es zu nutzen, schenkten sie es dem Sohn ihrer Hausangestellten und Köchin, also meinem Vater. So war das.

II
«Frau Lehmann, das Silber ist noch zu putzen.» Meine Grossmutter steht in der Rüstküche und schimpft unmerklich in sich hinein. Sie hat auch ohne Silberputzen schon mehr als genug zu tun. Der Bildhauer Tschopp ist zu Besuch und hat seine beiden Söhne mitgebracht. Frau Doktors zackiges Auftreten ist manchmal kaum zum Aushalten.
Meine Grossmutter ist 38 Jahre alt und schon seit ein paar Jahren bei Herrn und Frau Doktor. (...)

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