Der Traum vom Fliegen

Textauszug. Der ganze Text ist in_>«Bernsehen II» 2013 erschienen. __> zurück zu literatour

Unter anderem überflog Oskar Bider vor hundert Jahren als erster Mensch die Pyrenäen und, von Bern aus, die Alpen. Seit 1924 scheint er als Bronzeplastik mit ausgebreiteten Armen übers Marzili fliegen zu wollen, wohl den Alpen entgegen und darüber hinaus, was 2012 zu einer neuen Abbildung führte. Eine Art Matrjoschka-Verschachtelung, wenn man so will: Pionierleistungen, die vor hundert Jahren weltweit für Aufsehen sorgten, inspirierten einen Künstler zu einem Werk, das eine Künstlerin zu einem anderen Werk bewegte, das nun den Ausgangspunkt bildet für den vorliegenden Text – und beim Lesen abermals zu etwas Eigenständigem wird. Eine Holzfigur umschliesst die andere. Allerdings, und hier hinkt der Vergleich natürlich, in immer anderer Erscheinung: Auf Handlungen folgt eine Plastik, darauf ein Bild, und jetzt ein Text, der beim Lesen weitere Bilder und Gedanken hervorruft. Allen Erscheinungen gemeinsam ist dabei eine Art Sehnsucht nach Freiheit. In der Luft, in der Kunst, im Denken.
Denke ich «Freiheit», so tappe ich immer in die gleiche Falle. Ich stelle sie mir unglaublich schön vor. Ein bisschen wie Fliegen. Erst dann merke ich, dass etwas nicht stimmt. Denn Fliegen war für mich nie nur schön. So weit ich mich erinnere, war Fliegen für mich immer und untrennbar auch mit etwas Beklemmendem verbunden. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Flugpionier zu werden. Es gab ihn zwar schon, auch in meinen frühen Erinnerungen, diesen kurzen, unglaublich befreienden Abhebemoment. Meistens stand ich am Rand eines Abgrunds, breitete die Arme aus und schwebte einem Deltasegler gleich in den freien Raum. Wow. Nur eben: Dieses Glück wurde vom Gesamterlebnis immer wieder kaputt gemacht.
Ich weiss recht genau, wo diese Traumbilder herkamen. Als Vier- oder Fünfjähriger habe ich einmal Deltaseglern beim Starten zugeschaut. Das war auf dem Salève, hoch über Genf: Ein kurzes Rennen und dann hopp und ein Nichtstürzen, das mich stets neu überraschte. Erwarten tat ich immer den Absturz, den Tod. Das Ausbleiben des Schreckens war für mich jedesmal, als ob mein Verstand versagte. Und das ärgerte mich, obwohl ich selbstverständlich immer auch erleichtert war.
Auf dem Salève bin ich seither nie mehr gewesen, was mich erstaunt, wohnte doch mein Schwiegervater ganz in der Nähe. Nur im Kino führte mich einmal ein Film wieder hinauf. Ein Genfer Film über einen Hausbesetzer, der keinen Sex mochte, also nicht nur Sex, im Titel war noch von anderem die Rede («Pas de café, pas de télé, pas de sexe», 1999, Romed Wyder). In diesem Film wird eine ziemlich komische Hochzeit gefeiert, mit einem freien, ziemlich unverbindlichen Eheversprechen, und das ganz in der Nähe des Ortes, von wo ich als Vier- oder Fünfjähriger die Deltasegler nicht hatte abstürzen sehen. Klar, es war ein Film über ein völlig anderes Thema. Aber ich schwitzte plötzlich, ohne genau sagen zu können, weshalb. Wahrscheinlich war es die alte Angst aus meiner Kindheit, die mir einheizte, die Angst um die Männer, die damals mit ihren Deltaflügelgestellen auf den freien Raum über Genf zu rannten. Offenbar waren die Salève-Filmbilder imstand, dieses Gefühl wieder hervorzurufen.
In meinem Traum allerdings fand das Deltaseglergefühl, dieses seltsame Angst-Glück in einer völlig anderen Umgebung statt. Es reichte eine ähnliche Geländestruktur, um es auszulösen. Und die war weit weg vom Salève und von Genf, nämlich in Griechenland, auf Kreta und zwar da, wo mein Vater sein Sackmesser verloren hatte. Er hatte es auf dem Dach eines gemieteten Jeeps liegen gelassen. Wahrscheinlich war es beim Anfahren runtergefallen. So Sachen passieren.
(...)

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