Umarmungen im Liebefeld

Textauszug. Der ganze Text ist im_> Köniz-Buch 2011 erschienen. __> zurück zu literatour

Liebefeld ist ein absoluter Zufall. Für mich und uns, meine ich. Wir sassen vor der Schweizerkarte, damals, vor gut zehn Jahren, und entschieden uns für Bern oder so. Eigentlich hatten wir einen Wohnungsvertrag in Steinhausen, meine damalige Freundin und heutige Frau wollte dorthin, aus beruflichen Gründen. Und wir, wir wollten zusammenziehen. Sechs Wochen vor dem Umzug entwickelte sich die Sache mit der Stelle allerdings zu einer Katastrophe, so dass wir alles abbliesen und kurzfristig woanders eine Wohnung suchen mussten. So landeten wir in Liebefeld; an der Wabersackerstrasse.
Herr L. war ein richtiger Herr und wohnte einen Block weiter. Er war über achtzig und von Beruf Taxichauffeur, wenn ich das richtig im Kopf habe. Ihm starb die Frau sehr überraschend, sie brach einfach zusammen. Stell dir vor: Beim Blutnehmen hatte die einen Herzinfarkt.
Fünf Jahre später zügelten wir einen knappen Kilometer weiter, an den Grenzweg, und vor einem Jahr nochmals etwa achtzig Meter weiter, um eine Ecke der Stadt Bern herum, in eine grössere Wohnung. Dabei hätte es Gründe gegeben, wegzuziehen: Mein weiter Arbeitsweg zum Beispiel. Oder die hohen Steuern.
Von einem Tag auf den andern war Herr L. alleine. Seine Frau hatte den Tagesablauf und alles bestimmt. Er war einfach so mitgelaufen, machte jeden Tag die Kommissionen, die sie ihm aufgetragen hatte. Jeden Tag mit derselben Tasche. Woche um Woche. Und dann ist sie eben gestorben und der ganze Rhythmus veränderte sich. Meistens ging er nun zweimal einkaufen, am Morgen und am Abend. Kurz nach dem Tod seiner Frau bekam er es mit den Hüften. Wahrscheinlich hatte er das vorher schon, aber es war erst jetzt ins Zentrum gerückt, aufs Mal war er wichtig geworden.
Was hält mich hier, hier in Liebefeld? Oder im Liebefeld? oder Liëbifäld? Das «Ch» bei Chöniz kommt mir mittlerweile ganz selbstverständlich über die Lippen. Gehöre ich deshalb schon hierher? Aufgewachsen bin ich in Aarau. Studiert habe ich in Fribourg. Und jetzt bin ich seit zehn Jahren an einem Ort, an den ich aus keinem besonderen Grund gewählt habe. Wieso?
Und dann las Herr L. in einer Zeitung, ich weiss nicht mehr in welcher, es kann auch das Apothekerheftchen gewesen sein; da las er also, dass Bäume Kraft geben. Man muss sich irgend einen Baum aussuchen, wenn möglich einen alten und dann mit ihm Kontakt aufnehmen und ihn umarmen und mit ihm ins Gespräch kommen. Dann bekommt man die Kraft, die dieser alte Baum hat.
Zufall?
Das machte auf Herrn L. solch einen Eindruck, er war so offen dafür, dass er sich den Chegelebaum dort an der Ecke auslas. Und das Verrückte ist, dass ich im Nachhinein vernahm – da war Herr L. schon längst gestorben – dass es im Liebefeld, also da im Quartier, dass es da etwa fünf alte, geschützte Bäume gebe. Und dieser Chegelebaum ist einer von denen. Dabei sieht er überhaupt nicht danach aus, also gar nicht. Aber jetzt, da die den Garten und alles neu machen, ist dieser Chegelebaum stehen geblieben. Ich sprach den neuen Besitzer darauf an. Denn ich hatte Himmelangst, sie würden diesen Baum auch ummachen, dabei gefiel mir der doch so. Und dann sagte der Besitzer: Ja eben, den dürfe er nicht ummachen, der sei halt geschützt. Das gab mir fast eins. Kein Mensch käme darauf, dass gerade dieser unscheinbare Chegelebaum geschützt sein könnte. Aber das hat er mir gesagt.
Stadtnähe, schnell im Grünen (...)

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