Heute baue ich ein Schiff

Gelesen an den Solothurner Literaturtagen 2005. __> zurück zu literatour

Es ist Morgen. Es ist heute Morgen. Es ist heute der einzige heute Morgen. Das ist eine schwierige Sache. Dabei ist es einfach. Es ist schwierig und einfach: Heute ist der heutige heute Morgen und morgen ist der morgige heute Morgen. Und darum sind sie nicht dieselben. Sie sind verschieden. Und mit dem gestrigen heute Morgen ist es genau so. Er ist verschieden. Der heutige heute Morgen ist etwas Besonderes. Es ist der einzige heutige heute Morgen.
Und deshalb baue ich heute ein Schiff. Ich könnte das Schiff auch Morgen bauen. Aber morgen ist das etwas ganz Anderes. Auch gestern könnte ich es bauen. Aber das will ich nicht. Ich baue es heute, weil heute besonders ist und ich ein besonderes Schiff baue. Ich baue immer besondere Schiffe, wenn ich Schiffe baue. Aber heute baue ich ein besonders besonderes Schiff. Es muss auf einem Fluss fahren können und dann auf dem Meer. Bis zum Meer ist es weit und dazwischen hat es Brücken. Da darf das Schiff nicht kaputt gehen und der Mast darf nicht hoch sein. Einen Mastkorb braucht es trotzdem. Auch wenn er nicht hoch oben ist.
Einen Mastkorb brauche ich, zum Landinsicht rufen. Ohne Mastkorb geht das nicht. Ich kann dann nicht Landinsicht rufen, weil ich ohne Mastkorb das Land nicht sehe. Landinsicht rufen ohne Land zu sehen ist fies. Deshalb brauche ich unbedingt einen Mastkorb.
Auf dem Fluss brauche ich fast nie einen Mastkorb. Dort gibt es immer Land und dann ist Landinsicht rufen blöd. Vielleicht ist aber der Fluss auch einmal breit; ganz, ganz breit. Auf einem ganz, ganz breiten Fluss brauche ich den Mastkorb. Ich gehe dann in den Mastkorb und rufe Landinsicht. Und wenn kein Land da ist, dann rufe ich nicht Landinsicht. Wenn kein Land da ist, warte ich. Ich muss dann aufpassen.
Manchmal ist es schwierig, Land zu sehen. Auf dem Meer ist es immer schwierig. Auf dem Meer gibt es kein Land, oder fast kein Land. Auf dem Meer gibt es auch Piraten und Piraten wohnen auf Inseln und von den Inseln aus gehen sie stehlen. Ich bin froh, dass ich ein besonders besonderes Schiff habe. Wenn mich Piraten stehlen wollen, dann gehe ich in den Mastkorb und rufe Landinsicht. Und dann sage ich, wir machen jetzt ein Wettrennen und fahre ganz langsam hinter den Piraten her. Die meinen dann, dass sie gewinnen und passen nicht mehr auf. Schnell kehre ich um und fahre davon. Und die Piraten merken das nicht und fahren immer weiter, weil ich Landinsicht gerufen habe. Dabei stimmt es gar nicht. Ich bin fies, wenn Piraten kommen, und dann fahren sie immer weiter.
Ich brauche ganz sicher einen Mastkorb. Wenn ich ohne Mastkorb Landinsicht rufe, glauben mir die Piraten nicht. Und das ist gefährlich. Vielleicht sind es Menschenfresser. Dann nehmen sie mich auf ihre Insel und kochen mich in einem grossen Topf. Oder sie braten mich an einem Spiess. Ich habe gesehen, wie man ein Huhn brät. Man muss es an einen Spiess stecken und über dem Feuer drehen. Das ist blöd. Früher meinte ich, das Huhn lebt noch, weil es sich bewegt. Heute weiss ich, dass das nicht stimmt. Es ist ein kleiner Motor, der das Huhn dreht. Aber ich finde es trotzdem blöd.
Mein Schiff ist nicht gross und nicht klein. Es hat Platz für mich und meine Freunde. Aber ich bin nicht sicher, ob meine Freunde mitkommen. Sie haben Angst, sie dürfen nicht oder sie fliegen lieber Helikopter. Helikopter finde ich viel gefährlicher als Schiffe, obschon es keine Helikopterpiraten gibt. Und einen Helikopter kann man nicht selber bauen, das ist zu schwierig. Ich baue mein Schiff trotzdem gross genug, vielleicht treffe ich unterwegs Freunde. Oder Schiffsbrüchige, die froh sind, wenn ich sie rette.
Zuerst lege ich Holzlatten auf den Boden. Im Keller stehen welche. Sie sind zwar etwas kurz, aber dafür hat es viele davon. Sie sind rot. Das ist schön. Die Holzlatten lege ich so auf den Boden, dass die Form meines Schiffs stimmt. Nicht zu gross und nicht zu klein. Vorne der Spitz ist wichtig. Das ist der Bug. Der Bug muss spitzig sein, aber nicht so spitzig, dass das Schiff kippt.
Und dann muss ich entscheiden, wo der Mast hinkommt. Einen richtigen Mast habe ich noch nicht. Aber in der Küche steht ein Hocker, der ist höher als die andern. Es ist kein Kinderhocker, aber wenn ich auf ihm sitze, bin ich genau gleich hoch oben wie die Erwachsenen. Diesen Hocker nehme ich und stelle ihn dort hin, wo der Mast ist. Das Gute daran ist, dass ich keinen richtigen Mastkorb bauen muss. Ich steige einfach auf den Hocker und tue so, als ob das der Mastkorb wäre.
Der Hocker hat oben ein rundes Loch, damit man ihn mit einem Finger tragen kann. Ich kann das noch nicht, er ist zu schwer. Aber wenn ich gross bin, kann ich es auch. In dieses Loch stecke ich später einen Besen und an dem Besen mache ich mit Wäscheklammern ein Bettlaken fest. Ich will nicht immer rudern. Rudern ist sehr anstrengend. Und auf dem Meer gibt es ganz viel Wind.
Ein Ruder nehme ich trotzdem mit. Oder zwei. Auf dem Estrich liegt ein Gummiboot und dabei sind zwei Ruder. Das eine Ruder brauche ich zum Rudern, wenn kein Wind da ist oder wenn der Wind aus der falschen Richtung kommt. Ich muss immer abwechseln, einmal muss ich auf dieser Seite rudern, einmal auf der andern. Sonst drehe ich mich im Kreis. Das zweite Ruder mache ich hinten fest. Am Heck. Ich mache es so fest, dass ich damit steuern kann. Das ist wichtig, wenn ich mit dem Bettlaken segle.
Ich nehme auch ein Stück Brot, eine Taschenlampe und ein Kissen mit. Eine Kanone möchte ich auch mitnehmen. Aber eine Kanone haben wir nicht. In der Küche liegt ein grosses Messer. Und hier im Garten liegen runde Steine, die ich gut werfen kann. Damit geht es auch.
Jetzt muss ich pressieren. Der Morgen ist beinahe schon vorbei. Und morgen will ich kein Schiff bauen. Immer Schiffe bauen ist blöd.
Da kommt Julia. Julia ist schon einmal auf den Mond geflogen. Mit einer Zauber-Wolldecke. Aber als sie mich mitnehmen wollte, hat es nicht funktioniert.
Julia sitzt einfach auf den Mastkorb. Ich sage ihr, dass das nicht geht. Im Mastkorb muss man stehen. Und sie fragt, wie ich denn mein Schiff zum Fluss bringen will. Das ist eine wichtige Frage. Man könnte die Holzlatten und alles einzeln wegtragen. Aber bis zum Fluss ist es ein gutes Stück Weg. Und alles wieder richtig zusammenbauen ist langweilig. Julias Wolldecke ist zu klein. Und man weiss nie, ob sie funktioniert.
Julia ruft Piraten voraus und ich klettere zu ihr in den Mastkorb. Es ist etwas eng und wir haben Angst. Da macht Julia eine böse Grimasse und ruft laut, dass wir auch Piraten sind und am liebsten braungebratene Piraten essen. Jetzt flüchten sie, die Piraten. Und Julia steigt hinunter und fragt, ob sie die Hälfte meines Brotes haben darf.

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